Wie du ein Gespür für digitale Barrierefreiheit entwickelst

„Ich würde gerne einen Entwurf für eine Website betrachten können und sofort spüren: Das ist nicht barrierefrei!“ – Diesen Wunsch äußerte ein Kollege vor ein paar Tagen. Er arbeitet bereits seit vielen Jahren als Web-Entwickler, hat aber noch wenig Erfahrung mit digitaler Barrierefreiheit gesammelt.

Seine Frage brachte mich zum Nachdenken: Was können Neulinge tun, um möglichst schnell ein gutes Gespür für das Thema zu entwickeln?

Finger berühren die Seite eines Buches in Braille-Schrift. Foto: © Eren Li / pexels.com

Responsives Design? Wozu soll das gut sein?

Jüngere Kolleg:innen können sich das wohl schwer vorstellen: Es war nicht immer selbstverständlich, dass sich Web-Inhalte fließend an verschiedene Bildschirmgrößen anpassen. Noch in den Nullerjahren war es üblich, Websites nur für konkrete Bildschirmgrößen zu optimieren. Eine gute Zusammenfassung bietet der Artikel „A Brief History of Responsive Web Design“.

Erst der Siegeszug des Smartphones brachte ein Umdenken. Nutzer:innen erwarten heute, dass Websites auf allen Geräten gut aussehen und bedienbar sind. Responsives Design wird explizit als Anforderung für Web-Projekte definiert. UI/UX-Expert:innen gestalten Entwürfe und Prototypen für verschiedene Bildschirmgrößen. Entwickler:innen testen implementierte Features ganz selbstverständlich auf Desktop- und Mobilgeräten.

Was hat das jetzt mit Barrierefreiheit zu tun? Für mich zeigt der Siegeszug von responsivem Design deutlich: Je mehr Menschen Websites auf eine bestimmte Weise nutzen, desto stärker werden diese Bedürfnisse in der Web-Entwicklung berücksichtigt.

Barrierefreies Design? Wozu soll das gut sein?

Die Mehrheit der Web-Nutzer:innen greift zum Smartphone oder zur Maus, um im Internet zu surfen. Sie klicken auf eine Schaltfläche und registrieren das visuelle Feedback der Seite. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass ein Screenreader den Web-Inhalt sinnvoll vorlesen kann oder interaktive Elemente mit der Tastatur erreichbar sind.

Auch Web-Entwickler:innen sind im Grunde nur Nutzer:innen. Ihre alltäglichen Erfahrungen beeinflussen ihre Wahrnehmung, was eine gute, bedienbare Website ausmacht. Ein Beispiel: Wer noch nie einen Screenreader genutzt hat, kann sich schwer vorstellen, warum die semantische Auszeichnung von Web-Inhalten so wichtig ist.

Das bringt mich zur zentralen Frage zurück: Was können Neulinge tun, um möglichst schnell ein gutes Gespür für das Thema zu entwickeln? Ganz einfach: Die Perspektive wechseln!

Perspektive von Menschen mit Behinderung einnehmen

Wenn ihr die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung verstehen wollt, dann fragt sie am besten selbst, wie sie digitale Inhalte nutzen. Lasst euch von einer blinden oder seh­beeinträchtigten Person zeigen, wie sie mithilfe eines Screenreaders online einkauft. Sprecht mit einer gehörlosen Person darüber, wie sie Nachrichten mit Untertiteln oder in Gebärdensprache schaut.

Falls ihr keine Menschen mit Behinderung kennt, könnt ihr z.B. in eurer Firma einen Workshop organisieren. Hier kann etwa der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich ein Ansprechpartner sein. Manche Organisationen bieten auch konkrete Trainings an (Beispiel: Sensing Journey von myAbility).

Übung macht den Meister

Als Web-Entwickler:in ist man laufend mit neuen Anforderungen konfrontiert, die aus der rasanten, technischen Entwicklung resultieren. Deshalb haben wir das Prinzip „Learning by Doing“ verinnerlicht. Diese Herangehensweise hilft uns auch beim Thema digitale Barrierefreiheit: Einfach mal machen!

Ein guter Startpunkt sind aus meiner Sicht die „Web Content Accessibility Guidelines“ (WCAG), die für den öffentlichen Bereich in allen EU-Mitgliedsstaaten bereits rechtlich vorgeschrieben sind. Die WCAG decken eine große Bandbreite an Bedürfnissen verschiedener Nutzer:innengruppen ab. Sie bieten sehr ausführliche Online-Ressourcen, mit konkreten Beispielen für barrierefreie Implementierungen sowie häufige Fehler.

Mein Tipp: Die meisten Web-Inhalte können allein mit semantischem HTML und CSS barrierefrei aufbereitet werden. Oft stoße ich auf Websites, die exzessiv ARIA-Attribute einsetzen und damit mehr Barrieren erzeugen als sie beseitigen. Sinnvoll ist der Einsatz von ARIA bei komplexen UI-Komponenten, wie die WAI-ARIA Authoring Practices veranschaulichen.

Lass dir Zeit

Das Thema digitale Barrierefreiheit ist komplex und vielschichtig. Das bedeutet für Neulinge eine steile Lernkurve und viel Frustpotential. Ihr solltet euch Schritt für Schritt dem Thema annähern und offen für neue Perspektiven sein. Dann entwickelt ihr das richtige Gespür mit der Zeit ganz von allein.

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